Anzufangen ist wichtiger als anzukommen.
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Reminiszenz an eine grafische Novelle

König Leonidas Anerkennung wäre mir sicher, unterzöge er die auf ein Minimum reduzierte, quasi spartanische Ausstattung meines Rennrades einer Inspektion. Ein jedes an seinem Platz und nichts zu viel. Zweckmäßigkeit lautet das Gebot der vorgerückten Stunde. Es ist 3.45 Uhr. Mit einem Kaffee des Kaffeekontors Scheele in Stralsund in der einen und meinem Erdnussmuss-Samba-Bananensandwich (ca. 500 Kalorien, die Zutaten alle aus dem Biomarkt, Erdnussmuss crunchy) in der anderen Hand stehe ich im Halbdunkel des Familiendomizils und weiß nicht so recht, ob ich nun am Esstisch oder auf dem Sofa Platz nehmen soll. Der Weg zum Sofa wird von einem Vierbeiner bewacht, der jeden meiner Schritte argwöhnig beäugt. Das Tier spekuliert darauf meine Schlaftrunkenheit auszunutzen, um das Sandwich erobern zu können.

Also der Esstisch… an diesen gelehnt, zur reinen Freude meiner Frau, mein Trek Domane. Ein feiner Duft von Mangos umweht das mattschwarze Gefährt, habe ich der Kette doch vor Kurzem erst ein Bad in Woodmans feinster Kettenschmiere gegönnt. (Produktnamensnennungen sind rein zufällig, weder bekomme ich Geld dafür, noch entsteht mir dadurch irgendein anderer Vorteil.)

Noch leide ich nicht an seniler Bettflucht und so ist zu vermuten, dass das frühe Aufstehen einen Grund hat. Es sind dreißig Kilometer, die ich heute mit dem Rad fahren möchte. Ungefähr zehn Mal. Und damit das nicht zu langweilig wird, fahre ich nicht zehn Runden einer Strecke, sondern von Friedberg nach Korschenbroich (mit Dehnungs-i in der Endsilbe), zur Unges Pengste, einem überregional bekanntem Schützen- und Heimatfest. Streng katholisch und so klingt folgendes Zitat aus dem Korschenbroicher Pfingstlied auch gar nicht zweideutig: „Der Strammste und der Längste ist Fähnrich op Unges Pengste“. So, das haste… das Fest interessiert mich eigentlich nicht die Bohne, aber ohne Grund 300 km Fahrrad zu fahren wäre ja bekloppt. Ausserdem wird Korschenbroich am 6. Juli von jeder Menge radfahrendem Volk auf dem Weg nach Frankreich heimgesucht werden (www.op-tour.de) und so kann es nicht schaden, wenn einer mal im Vorfeld nach dem Rechten schaut. Und ganz und gar zufällig fahren Frau, Kind und Hund auch an diesem Tag nach in das beschauliche Nest in Nordrhein-Westfalen, um unser Patenkind zu besuchen.

Teile der Strecke sind mir bekannt, siehe hier und hier. Trotzdem klicke ich mir unter Zuhilfenahme von Komoot einen Track zusammen. Das mache ich nicht gerne, ehrlich. Aber ich bin ein fauler Mensch und Garmin hat was Routenplanung betrifft deutliche Defizite. Also Komoot… den insgesamt drei Tracks gebe ich lustige Namen, weil die App das so fordert und füttere damit meinen Garmin Etrex. Danach schnappe ich mir mein fruchtiges Smartphone und stelle fest, dass es beinahe fünf Uhr ist. Zeit zum Aufbruch. Benito Epominati hat sich angeboten, mich auf den ersten Metern zu begleiten. Und ja, über den Namen darf man ein bisschen nachdenken und auch gerne etwas verwirrt sein. Benito ist aber, was der Name nicht erwarten lässt, ein sehr ruhiger Zeitgenosse mit Bumms in den Beinen und kommt absolut ohne Glykoprotein-Hormone aus. Milde achtzehn Grad und eine im Tiefschlaf befindliche Kleinstadt erwarten mich. Ein Passant misst den Fußweg Länge mal Breite aus und bereichert daraufhin den Asphalt mit einer bunten Melange an Hochprozentigem. Testosterongedopt verwechselt der Fahrer eines alten 3er die Straßen der Stadt mit Le Mans und driftet dem Sonnenaufgang entgegen. Am Ortsausgang erwartet mich Benito. Gemeinsam radeln wir aus der Stadt, wird auch Zeit. Mein Plan sieht vor, bis Sonnenuntergang die 300 im Sack zu haben.

Teil des Plans war auch, alle 30 km eine kurze Rast einzulegen, um eine Kleinigkeit zu essen. Dummerweise gelang es mir in der Vergangenheit nicht, während des Radfahrens etwas zu mir zu nehmen. Ich bekomme nichts runter, außer Flüssigkeit. Da ich aber den Speicher regelmäßig auffüllen muss, um einem Hungerast vorzubeugen, sind kurze Pausen unerlässlich. Daran denke ich auch, als wir das erste Mal die 30 km-Marke hinter uns lassen, aber es rollt gerade so gut. Meistens fahren wir über Feld- und Radwege, sowie kleine Nebenstraßen, was landschaftlich wunderschön ist, aber ein ziemliches Gegurke bedeutet, dafür aber den Kontakt mit PKWs auf ein Minimum reduziert. Bei km 43 versperrt ein Hotel den eingezeichneten Track. Routiniert navigiere ich, der Mann mit den eingebauten Kompass, um das Gebäude herum und leite uns so wieder auf den Track – leider in die falsche Richtung, was uns aber erst nach ca. 7 km auffällt. Gerade noch sage ich zu Benito, wie frustrierend es sei, wenn man sich scheinbar wieder auf zuletzt passierte Orte zubewegt, denn eigentlich sollte Frankfurt nun in unserem Rücken liegen. Tut es aber nicht und am Horizont taucht eine Bausünde mit Namen Dorint auf, was den Blitz der Erkenntnis in uns fahren lässt. Ungläubig ob der eigenen Blödheit rolle ich trotzdem noch einige Meter weiter, vllt. gibt es das hässliche Dorint zweimal in der Gegend. Schliesslich muss ich mir eingestehen, daß ich tatsächlich einen Fehler gemacht habe und verfluche ausgiebig das Etrex und Komoot. Alles fluchen hilft nichts, wir müssen umdrehen. Sofort werde ich hektisch, denn der kleine Patzer bedeutet mindestens eine halbe Stunde Zeitverlust. Automatisch erhöhe ich den Druck und lasse bis Hochheim die Feldwege links und rechts liegen. Auf der Bundesstraße können wir so ein bisschen Zeit gut machen und kreuzen um halb neun den Rhein bei Mainz.

Es ist Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Eine Bäckerei in der Stadtmitte versorgt uns mit dem Nötigsten (großer Kaffee und eine Stulle) und ich verschwinde kurz auf der Toilette zum frischmachen. Der Weg zurück in die Bäckerei wird mir jedoch verwehrt. Wie war das noch gleich…. Treppe runter, Gittertür aufschließen (den Schlüssel habe ich dank der Bäckerin), noch eine Etage tiefer, dann eine Stahltür mit einem anderen Schlüssel aufschließen und schon steht man vor der Toilette. Soweit noch nachvollziehbar. Nun stehe ich aber in einem Kellerflur, hinter mir die Tür durch die ich kam – ohne Klinke und vor mir zwei verschlossene Türen, zu denen keiner meiner Schlüssel passt. Ich grüble…. wie bin ich denn hier herein gekommen? Egal, ich nehme den Aufzug! Das ist einfach, Knopf drücken, die Türe öffnet sich. Es gibt drei Knöpfe, einen für das Untergeschoss, einen für das Erdgeschoss und einen für den ersten Stock. Erdgeschoss bitte! Das Vertikalgefährt setzt sich in Bewegung und stoppt nach sehr kurzer Fahrt wieder. So soll es sein. Nachdem sich die Tür geöffnet hat, stehe ich in der Fußgängerzone. Weiterhin irritiert verlasse ich die Kabine, um Orientierung bemüht. Zweifelnd laufe ich um das Gebäude herum und betrete die Bäckerei wieder durch den Haupteingang. Auch Benni hatte sich schon gefragt, wo ich denn bleibe. Sein Frühstück hat er bereits aufgegessen. Statt zu viel in das soeben Erlebte hinein zu interpretieren, widme ich mich meinem Essen. Der Kaffee schmeckt, zeigt Wirkung und einer Weiterfahrt steht somit nichts mehr im Weg. Die restlichen 220 Kilometer alleine, denn Benni zieht es nach Hause. Statt nun wie geplant direkt am Rhein entlang zu fahren, entscheide ich mich dafür, Mainz in Richtung Gonsenheim zu verlassen. So meine ich einige Kilometer gutmachen zu können. Der Mut des Entdeckers in mir wird belohnt, denn sobald ich die Stadtgrenze hinter mir gelassen habe, wird die Landschaft bunter. Mein Weg führt mich mitten durch Streuobstwiesen, ab und zu sehe ich unter mir das reflektierende Band des Rheins aufblitzen. Das der streckenweise lose Untergrund meine Reifen auf eine harte Probe stellt, stört mich nicht weiter. So erreiche ich schließlich Bingen und nehme mir dort die Zeit für eine Fotopause.

Das Bauwerk im Hintergrund ist übrigens der Mäusetrum. Nähere Infos dazu gibt es hier!

Meine Fahrt von Bingen in Richtung Koblenz wird von einigen Wassertropfen begleitet, die mich aber weder zum Anhalten, noch zum Absteigen zwingen. Das schafft ein respektables Stück Erdbeerkuchen mit Sahne, welches mich von einem Schild am Radweg anlächelt. Ich kann trotz der dunklen Wolkenfront, die mich zu verfolgen scheint, nicht widerstehen. Das Stück Kuchen welches mir serviert wird, ist bei weitem nicht so groß, wie es die Reklametafel versprach, was ich gegenüber der Bedienung kritisch anklingen lasse. Schmecken tut es aber trotzdem! Der Wolken wegen und weil das Zeitfenster kleiner und kleiner wird, setze ich aber bald meine Fahrt fort.

Das Wetter bleibt bis kurz vor Koblenz stabil, dann allerdings zwingt mich ein Gewitter mit Starkregen zum Anhalten. Die Zwangspause überbrücke ich mit einem Teller Nudeln. Mein Ziel noch vor der Dunkelheit zu erreichen, lege ich ad acta und entwickle stattdessen einen Plan B. Dieser lautet die 300 Kilometer voll machen und dann je nach erreichtem Ziel entweder mit der Bahn weiter zu fahren oder abholen zu lassen. Ein guter Plan! Mal schauen, ob das meine Frau auch so sieht, wenn es soweit ist. Der Regen lässt sich Zeit, so wie der Koch bei der Zubereitung meiner Nudeln und so hänge ich in Koblenz fest. Irgendwann haben aber beide ein Einsehen und ich rolle weiter. Ca. 500 m weit komme ich, dann öffnet der Himmel wieder seine Schleusen. Wozu habe ich eigentlich Regenklamotten dabei? Zum Umziehen steuere ich das Vordach eines Einfamilienhauses an. Es ist das erste mal, dass ich meine Überschuhe und die Regenhose nutze. Gut verpackt wage ich mich in die Fluten. Auf der Membran der Regen, unter der Membran der Schweiß. Aber immerhin friere ich nicht. Dem schlechten Wetter zum Trotz, ist meine Laune nach wie vor gut. Bei Mühlheim-Kärlich fahre ich an dem seit 1988 wegen eines fehlerhaften Baugenehmigungsverfahrens (!) stillgelegten AKW vorbei. Eine unheimliche Kulisse ist es allemal.

Die Strecke von Koblenz bis Bonn ist in meinen Augen landschaftlich weniger reizvoll, alles ist etwas flacher und weniger malerisch im Vergleich zu Lorch, Bingen oder St. Goar. Trotzdem müssen sich Städtchen wie Bad Breisig nicht verstecken. Hier endete 2015 der erste Teil meiner Rhein-Radtour. Heute fahre ich allerdings weiter. Inzwischen hat der Wind aufgefrischt und weht mir böig in Gesicht. Ausserdem nervt der Untergrund. Schlechter von querenden Wurzeln durchzogener Asphalt im Wechsel mit Kopfsteinpflaster belastet nicht nur meine Handgelenke. In Remagen lege ich an der ehemaligen Rheinbrücke eine kurze Rast ein und verschlinge einen Beutel süßer Gummiteilchen.

Das blöde am Zucker ist, er hält nicht lange vor. Bei mir exakt bis Bonn, da hängt mein Magen schon wieder auf halb acht. De facto habe ich seit meinem letzten Mittagessen 70 Kilometer geschafft. Und weil absehbar ist, dass ich heute abend nicht pünktlich zu irgendeiner Form des Abendbrotes werde erscheinen können, steuere ich ein orientalisches Restaurant am Bonner Stadtrand an. Humus mit gerösteten Pinienkernen, dazu Fladenbrot mit Hackfleischfüllung und ein Weizen alkfrei bringen mich wieder auf Kurs und kosten mich in Summe etwas über eine Stunde. Der geplante Bruttoschnitt von 20 km/h ist seit Koblenz schon dahin. Das Problem mit langen Pausen ist, das sie viel weniger erholsam sind, als man annehmen könnte. Jetzt bin ich satt, aber eben auch müde. Egal, was sind schon 70 Kilometer. Ist man in Bonn, liegt Köln nur einen Steinwurf entfernt. Wenn man gut werfen kann und ausreichend Kraft in den Armen hat. Habe ich nicht. In den Beinen ist auch nicht mehr viel drin, aber sie arbeiten. Netto hatte ich einen Schnitt zwischen 22 und 25 km/h angepeilt, um nicht am Tag nach der Anfahrt wie erschlagen auf dem Sofa rumfaulen zu müssen. Diese und andere Gedanken wälze ich auf meinem Weg nach Köln. Von meinem Umfeld bekomme ich inzwischen nicht mehr viel mit. Hippocampus wegen Überfüllung geschlossen! Das Industriegebiet bei Köln-Godorf allerdings hinterlässt wieder einen bleibenden Eindruck. Petrochemische Anlagen sind nicht nur optisch, sondern auch olfaktorisch eine Katastrophe. Und wieder einmal stelle ich fest, daß es sehr viel mehr Gründe gibt nicht Auto zu fahren, als solche die dafür sprechen. Den Faktor Zeit mal außen vorgelassen. Wir brauchen eigentlich kein Auto, der nächste Supermarkt liegt in fußläufiger Entfernung, der Weg zum Kindergarten ist auch für den Kurzen mit dem Rad machbar. Lediglich unseren Wohnwagen können wir nicht mit dem Fahrrad ziehen. Günstiger wäre es auch. Eine teure, ungesunde Angewohnheit dieses Autofahren. Wie wäre es mit Horrorbildchen auf den Autos analog derer auf den Zigarettenpackungen? Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihre Kinder und Enkel!

Das letzte Mal als ich mit dem Rad in Köln war, fand der CSD statt. Aber weniger los ist heute auch nicht. Das Rheinufer ist vollgestopft, alles sitzt, steht, läuft herum. Eine feucht-fröhliche Stimmung. Auf die Straße auszuweichen ist keine Option, dort schiebt sich ein Autokorso hupend vorwärts. So richtig hell ist es nach dem Regen auch nicht mehr geworden. Die Sonnenbrille könnte ich demnach auch mal absetzen. An einem Kiosk hole ich mir eine Dose Redbull und mische diese mit 1,5 Liter Wasser, die ich in meine Trinkflaschen fülle. Schmeckt nicht besonders, tut die Brause pur ja auch nicht. Eigentlich gibt es auch keinen Grund sowas zu tun, aber irgendwie hatte ich auf Cola und Konsorten keine Lust. Warum also nicht mal Gummibärchensaft? Inzwischen bin ich über 15 Stunden unterwegs, da darf man sich eine gewisse Schrulligkeit erlauben. Und noch bin ich weder am Ziel, noch habe ich die 300 Kilometermarke geknackt, es fehlen noch ca. 30. Mit meiner Frau vereinbare ich telefonisch, weiter Richtung Korschenbroich zu fahren, evtl. könnte sie mir ja entgegen kommen und mich aufgabeln. Die folgenden 20 Kilometer gestalten sich ereignislos. Ich fahre durch wenig spannende Landschaft, passiere anonyme Villenviertel, auch ein Stück des Rheins lässt sich nochmal blicken. Die nautische Dämmerung läutet die Nacht ein und ich habe die Wahl, links oder geradeaus zu fahren. Statt eine Münze zu werfen, telefoniere ich ein letztes Mal für heute mit meiner Frau. Sie möchte mich nicht mehr weiterfahren lassen und wir vereinbaren, uns in Neuss zu treffen. Das spart mir 16 Kilometer, aber mein Tagesziel werde ich erreichen. Die letzten Kilometer zähle ich Geiste herunter und fast wie erwartet fühlen sich 300 Kilometer nicht anders an als der 30 Geburtstag. Es ändert sich nichts. Am Untertor in Neuss lasse ich es ausrollen und steige ab, der Tacho zeigt 307 Kilometer. Ausser einer zwickenden Achillessehne spüre ich nichts (mehr). Zum Abschluss vertilge ich die restlichen Gummiteile, bevor mich mein Taxi aufpickt. Einmal müssen wir noch halten und zwar an einer Tanke, denn ein kaltes alkfreies Bier muss jetzt sein. Das Bier trinke ich im Auto auf Ex und freue mich auf eine Dusche.

Fazit:

Die Strecke war besonders am Schluss kopfmäßig ein Problem. Die Tatsache, dass ich am Tag danach noch aufrecht gehen kann und nur einen leichten Muskelkater habe zeigt mir, dass ich nicht alles falsch gemacht habe. Die vielen Essenspausen waren notwendig, bei zukünftigen Aktionen muss ich mir aber Alternativen in Sachen Kalorienversorgung überlegen. Riegel und Gel fallen schon mal aus. Das meiste von diesem Zeug vertrage ich einfach nicht. Gesäßcreme hatte ich für den Fall der Fälle dabei, habe sie aber nicht gebraucht.

1 Comment
  1. Anonymous

    18. Juni 2017 8:30

    3.5

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