„Now the curtain opens on a portrait of today
And the streets are paved with passersby
And pigeons fly
And papers lie
Waiting to blow away.“
(Chelsea morning / Joni Michell)

 

Text: Dr. Dorie, Fotos vom Enkel und Martin Donat lifecyclemag

Durch das feuchte Grau eines frühen Morgen schiebt sich ein Sonnenstrahl und sucht nach uns. Wir, das sind Fünf. Drei Menschen, eine Ratte und ich. Jeder für sich und doch gemeinsam haben wir vor einer halben Stunde die Weiterfahrt nach Berlin angetreten. Die Piloten blicken entweder auf ihre elektronischen Helfer oder in die Landschaft. Mal lachend, mal ernst, aus Trotz singend oder vor Freude jubelnd. Noch umweht ein Schatten der Nacht ihre Augen, die Beine verrichten ihren Job automatisch. Umdrehung um Umdrehung, immer weiter über taufeuchte Wiesen der Sonne entgegen. Martin muss seine Packtaschen justieren, wir anderen fahren für einen Moment ohne ihn weiter. Und lange dauert es auch nicht, da taucht er hinter uns wieder auf. Eine Bäckerei wird gesucht und gefunden. Noch nie tat Brühkaffee so gut, die Becher warm, schmiegen sich an. Männerthemen am Morgen. Eintrachttrainer Kovac wechselt den Verein… „Verräter….“ sagen die Einen, „Gut gemacht!“ entgegnen die Anderen. Die Verkäuferin schenkt Kaffee aus und jedem der Anwesenden ein freundliches Lächeln. Wer weiß, welche Geschichten sie zu erzählen hätte? Und würden wir ihr zu hören? Ich würde! Lieber als in ständigem bitterbösen Reigen die Namen der Weltverderber lesen und hören zu müssen. Mit gesundem Menschenverstand hat das, dessen Zuschauer wir geworden sind nichts mehr zu tun. Und mehr gesteht man uns auch nicht zu. Friss und stirb endlich.

Die Bäckerei – eine Insel, umgeben von Fremden, aber doch fühle ich mich hier einen Moment wie zu Hause. Und jetzt ist der Tag da, mit einer Sonne die bedingungslos Wärme schenkt und den Bewegungsdrang in uns weckt. In fliegendem Wechsel verlassen und betreten Piloten die Stube. Wir entlasten die Raumluft und satteln auf. Die nun vor uns liegenden Kilometer habe ich nicht in allerbester Erinnerung. Brüchiger Beton wechselte sich hier 2017 mit groben Feldwegen ab und Gegenwind raubte uns den Nerv. Zumindest der Wind sollte heute kein Problem sein und ohne unsere Geduld auf die Probe zu stellen, rollt es sich ganz entspannt. Am heutigen dritten Tag unserer Reise fühle ich mich, als sei ich bereits angekommen. Das eigentliche Ziel wird zur Nebensache. Es gibt nur noch Bewegung und ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit allem, was uns umgibt. Und Pfützen gibt es… jede Menge Pfützen in jeder Größe. Was wäre eine Radfahrt ohne durch Pfützen gefahren zu sein?

Die Menschen an denen wir vorrüber fahren sehen uns nach. Manchmal, also wenn sich die Gelegenheit ergibt, sprechen sie uns an. „Warum sind die Räder so dreckig?“, „Woher kommt ihr?“, „Wohin gehts?“…  Auf die Antworten ernten wir meistens ungläubige Blicke. „Warum fahrt ihr denn Umwege?“, „Warum macht ihr sowas?“ … Weil man ein Land und seine Menschen radreisend ganz anders kennen lernt. Sitzt man in einem Auto, fährt man aneinander vorbei, Kontaktaufnahmen sind selten. Im Zug hat man jede Menge Zeit mit anderen zu sprechen, aber oft genug kein Thema. Ein Fahrrad bringt dich nicht nur von A nach B, sondern auch zu den Menschen, wenn du es zulässt. Zuhören bringt auf jeden Fall weiter, als Urteile zu fällen. Die Welt ist eben nicht schwarzweiß und nur wenig, was aus dem Osten kommt, ist braune Soße. Furcht und Frustration sind aber guter Nährboden für krude Thesen.

Wieder eine Pause und wieder ist es eine Bäckerei. Nach dem Einkauf gesellt sich der Inhaber der Backstube zu uns, während wir dicke Backen machen. Wir erzählen vom Regen, unserer Reise, ihren Begegnungen und unserer Begeisterung für den Landstrich den wir gerade abrollen. Zum Abschied gibt es eine Riesentüte frisch Gebackenes. Und: Sauerkrautbrötchen!

Unsere kleine Gruppe zerfällt immer wieder, das Tempo auf den wechselnden Untergründen ist zu unterschiedlich. Und wie so oft während einer Tour wie dieser hat man schlicht keinen Bock mehr auf Smalltalk und möchte sein eigenes Ding machen. Auch haben wir immer wieder mit schlammigen Böden zu kämpfen. Einer der beiden Martins ist sichtlich genervt, da ihm das klebrige Zeug nicht nur die Schaltung blockiert, sondern sich auch zwischen seinen Schutzblechen und Reifen sammelt und so ein ums andere Mal eine Weiterfahrt unmöglich macht. Und irgendwann bleibt er zurück. Wir sollen vorfahren lautet die Ansage, was wir auch tun. Leider treffen wir Martin danach erst in Berlin wieder.

Nun nähern wir uns Othal, dort hatten wir beim Candy B. 2017 in einer Bushaltestelle eine Nacht verbracht (…warten bis kein Bus kommt). Und natürlich feiere ich diesen Umstand ein bisschen, als wir daran vorbei fahren. Die Sonne feiert sich selbst und brennt auf uns herunter. Der letzte Tropfen Wasser ist getrunken und der Enkel versucht mittels Kaugummi, den trockenen Mund zu beruhigen. Das gelingt mäßig, aber zum Glück findet sich in Eisleben auch am Samstag nachmittag noch ein Supermarkt, der uns mit kühlen Getränken versorgt. Verstaubt, aber glücklich suchen wir mit unserer Beute den Schatten. Die Einheimischen taxieren uns mit gemischten Blicken. Niemand spricht uns an. Ungläubig, misstrauisch, abfällig, manchmal lächelnd. Kinder werden weggezogen, wenn sie sich uns nähern. Und auch das ein oder andere politische Statement, auf einem T-Shirt zu lesen, erfüllt ausgediente Klischees. Irgendwas mit Deutschland und Kommando. Und der Blick des Trägers sagt mir, dass er unter gar keinen Umständen mit uns reden möchte.

Nach wenigen Pedalumdrehungen sind wir raus aus der Stadt. Die grünen sanften Hügel Sachsen-Anhalts nehmen uns vorurteilsfrei auf. Und wir treffen wieder auf andere Piloten. Andreas aus Hamburg, Joachim aus München, Mario und ein paar Andere. Wir lassen uns nieder, strecken die müden Beine aus und hören dem lauen Wind beim Flüstern zu. Hier möchte ich bleiben, nichts mehr sagen müssen, nur schauen und atmen. Eigentlich könnte ich jetzt abbrechen, denn besser wird es nicht. Alles fühlt sich richtig an. Das Gras ist weich, die Luft mild und nichts weiter von Belang. Aber ganz leise meldet sich eine Stimme und drängt zu Weiterfahrt. Berlin ist nicht mehr weit. Und wolltet ihr nicht noch heute die Elbe sehen? Ist ja schon gut. Aber die Beine des Enkels wollen nicht und verweigern auf den ersten Kilometern nach der Pause den Dienst. Ein Fußbad in flüssigem Beton ist nichts dagegen. Beim Überqueren der Saale sind 150 Tageskilometer notiert und mindestens 100 liegen noch vor uns, aber die Aussicht auf einige Flachlandkilometer entlang der Elbe stimmen auch die Beine um. Auf alten Betonstraßen fahren wir durch kleine Dörfer und wieder hinaus aufs Flachland.

Vorbei an landwirtschaftlich genutzten Flächen auf ausgebauten Radwegen… alles ganz hübsch, aber es hinterlässt keinen bleibenden Eindruck. Der Verkehr stört optisch und akustisch. Auf Asphalt rollt es sich aber gut und so sind wir relativ bald bei Dessau. Aus dem Hochparterre meines Verdauungstrakts dringt ein Rumpeln an mein Ohr. Es ist Zeit für ein Abendessen und so suchen wir uns ein lauschiges Plätzchen an der Mulde, einem kleinen Fluss, der in der Nähe unseres Standorts in die Elbe fließt. Unser Bewegungsapparat beruft in Anbetracht der zurückgelegten 200 km eine Krisensitzung ein. Aber es gibt nichts, was eine oder zwei Portionen Linseneintopf nicht verbessern würden. Den Verdauungsschlaf lassen wir ausfallen, denn vom Flussufer greifen kalte feuchte Dunstfinger nach uns und scheuchen uns in die Dunkelheit. Endlich kommt mal wieder eine der drei Lampen zum Einsatz, die der Enkel seit Frankfurt spazieren fährt + drei Akkus + diverse Ladebriketts. In Summe macht das knapp 2 Kilo zu viel am Rad. Verbuchen wir es mal unter Extratraining. Unser Licht schneidet in die Dunkelheit, kann sie aber nicht vertreiben. Der Weg vor uns wirkt flach, aber ein ums andere Mal versacken wir im Sand oder stecken in tiefen Harvesterspuren. Das zerrt mächtig an der guten Laune, aber zum Glück hören nur Martin und Ratti des Enkels fluchen. Links von irrlichtert es durch den Wald. Eine Gruppe Radler schlägt ihr Lager auf. Gerne wäre ich jetzt einer von ihnen. Wir aber suchen uns weiter unseren Weg durch den verwüsteten Wald. Nach knapp 250 km fühlen wir uns bettschwer und beschließen unser Lager in einer am Weg liegenden Schutzhütte aufzuschlagen. Zumindest der Enkel wird in dieser Nacht nicht viel Schlaf finden.

Ende Teil 3. Fortsetzung folgt…

Hier gehts zu Teil 2…