Teil 2: Vive la france…
Es gibt ihn wirklich. Und jeder hat ihn. Meiner stand jetzt fünf sechs Jahre unterm Dach. Davor 15 Jahre im Keller. Unbeachtet. Ignoriert. Vergessen. Der Karton. Dinge, die man auf gar keinen Fall wegschmeissen darf. Zeugnisse der Vergangenheit. Und in meinem Fall auch ein Reisetagebuch aus dem Jahr 1996. Nichts als die Wahrheit.
2.9.1996, Mulhouse, Frankreich
Der Sonntag macht seinem Namen heute alle Ehre. Meinem vergangene Nacht kultivierten Kater wäre etwas kühleres Wetter zwar lieber, aber ich freue mich trotzdem, denn anstatt gleich die Reise, brechen wir erstmal nur unser Zelt ab. Unser Ziel: die Coté d’Azur. Ohne Karte, einfach der Nase nach.
An Weinbergen entlang, deren Reben traubenvoll satt in der Sonne standen und auf die Lese warteten, fuhren wir in Richtung Rhein. Bei Neuenburg querten wir den alten Gevatter und standen in Chalampé. Mit dem Fahrrad eine Landesgrenze zu überfahren, fühlte sich großartig an. So als hätten wir schon richtig was geleistet, dabei haben wir noch nicht mal ein Zehntel der Gesamtstrecke abgespult. Nun sitzen wir in Mülhausen vor unserem Zelt, halten unsere Nasen in die Abendsonne und kochen das erste Mahl.


6.9.1996, Ornans, Frankreich
Es ist erstaunlich warm für Anfang September. In den letzten Tagen fuhren wir kreuz und quer durch das Elsaß und versuchten, ein gemeinsames Tempo zu finden. Silke möchte reisen, ich möglichst schnell ankommen. Unser Gepäck haben wir recht gleichmäßig verteilt, ca. 20 Kilo sind es pro Rad inkl. Proviant und Wasser. Damit rollt es sich in der Ebene noch sehr angenehm. Doch jeder kleine Hügel wird zur Herausforderung, denn bis auf ein paar kleine Touren zu Hause haben wir keinerlei Erfahrung in Sachen Radreise sammeln können.


Unseren Plan, einfach der Nase nach zu fahren gaben wir relativ schnell auf, nachdem wir mehrfach auf stark befahrenen Landstraßen unschöne Begegnungen nur knapp überlebt haben. Vor allem die LKW-Fahrer scheinen uns gar nicht zu sehen. Die Nebenstraßen aber führen uns durch malerische Dörfer mit kleinen Kirchen, vorbei an mächtigen Viadukten, sprudelnden Bächen und immer wieder auch durch dichte nach Harz duftende Wälder, sowie vorbei an üppigen erntereifen Feldern. Feststellen mussten wir auch, dass nicht alles, was sich Radweg nennt, flüssiges Fortkommen bedeutet. Nicht selten sind kaum befestigte Feldwege als für Räder geeignet beschildert, malerisch eingebettet zwar, aber teilweise fürchteten wir um unsere Zähne auf Grund der Rumpelei.


Unsere Tagesroutine sieht wie folgt aus:
Wir stehen selten früh auf, dafür frühstücken wir ausgiebig, danach bauen wir unser Zelt ab und packen unsere Sachen auf die Räder. Wer vermutet, das wir nun sofort aufsitzen, um die Rache des späten Aufstehens nicht fürchten zu müssen, wird enttäuscht. Denn bevor wir starten, suchen wir uns eine kleine Bar und trinken dort einen in der Regel ausgezeichneten Kaffee, bevor wir tatsächlich losrollen, um bald erneut für ein frühes Mittagessen oder einen dreisprachig mit Händen und Füßen geführten Smalltalk mit neugierigen Einheimischen anzuhalten. So schaffen wir am Tag selten mehr als 60 Kilometer. Wenn es uns irgendwo gefällt, suchen wir uns einen Campingplatz, packen alles wieder aus, bauen das Zelt auf, kochen, reden und trinken Wein.

Nun aber sitzen wir seit 2 Tagen fest, denn seit Beginn der Reise nervte mich ein Geräusch am Heck meines Bikes. Ich hatte die Speichen des kurz vor dem Urlaub neu gebauten Hinterrades im Verdacht und nahm mich der Sache beherzt mit einem Speichenschlüssel bewaffnet an. Ein paar Drehungen nach links und ein paar nach rechts und schon hatte ich einen respektablen Achter im Geläuf, der auch nach weiteren Reparaturversuchen eher schlimmer als besser wurde. Es hilft nichts. Ich leide. Reparaturlegasthenie oder die Sache mit den linken Händen. Ja, ich bin der, den man in den Keller schickt, um die Gewichte für die Wasserwaage zu holen. Und nun dazu verdammt, mir irgendwo in Frankreich mit einer erstaunlich geduldigen und obendrein noch sehr hübschen Mittzwanzigerin den knappen Platz eines Zeltes zu teilen. Es könnte schlimmer sein.


Der Besuch in einem französischen Bikeshop war aufschlussreich. Es handelte sich dabei eigentlich um einen Gartenfachhandel, der auch Fahrräder verkauft. Mit kritischem Blick inspizierte der Chef mein Rad und schüttelte dann den Kopf. Wie? Keine Speichen da? Doch Speichen hätte man schon da, aber das Rad sei ja kaputt. Kurz setzte mein Herzschlag aus, dann sah ich selber nach. Meine Französischkenntnisse beschränken sich auf ‘Si’ und ‘No gracias’! Demzufolge fiel es mir schwer, den Ausführungen des Erklärenden zu folgen, aber was ich verstand war: der Hinterbau sei verbogen. „C’est un Schwinn.“ lautete meine Replik. Eifriges Nicken. Klar, steht ja auf dem Rahmen. „L’arrière n’est, ähhhhhhh, pas plié…“ Der Hinterbau ist nicht verbogen. „Bien sûr. Jetez un oeil.“ Dabei klopfte er mit dem Zollstock gegen die Kettenstrebe. Aber nein, der ist nicht verbogen, der ist asymmetrisch …. erklär das mal auf französisch. „It’ not a bug, it’s a feature.“ Ein kritischer Blick. „Ähhhhh, ce n’est pas un bug, c’est une fonctionnalité.“ Der Zollstock wurde geöffnet und der Radprofi nahm Maß. Einmal von vorne nach hinten, dann von unten nach oben. „Non!“ Dazu fuhr er mit der flachen Hand an seiner Kehle entlang und als ich nicht gleich verstand, tat er so, als würde er sich erhängen und machte dabei gurgelnde Geräusche. Sogleich führte er mir einige Räder aus seinem Angebot vor und reagierte genervt, als ich dankend ablehnte, ihn aber bat, mein kaputtes Rad zu reparieren. Daraufhin reagierte er so französisch wie nur möglich. Er zuckte die Schultern, bließ die Backen auf und ließ knallend die Luft aus seinem Mund entweichen. „C’est votre vélo.“ Mir doch egal, es ist Dein Rad. Und eine halbe Stunde später, waren wir wieder reisefertig. Nun wollte man noch wissen, was man in Deutschland für diesen Service bezahlt hätte? Eine rethorische Frage, denn der Mann hatte vier hungrige Mäuler zu Hause, die Älteste sei dabei, ihr Leben an einen Taugenichts zu verschwenden und die jüngste tauge nicht zum Eier klauen. Und ausserdem hätte er gerne 100 Franc, die er umgehend seiner kranken Mutter bringen würde, damit die sich auch mal etwas zu essen kaufen könne. Wir zahlten ohne zu murren, auch wenn wir gerade einen Tagessatz unserer Urlaubskasse für zwei Speichen geopfert hatten. Ich dankte dem heiligen Christopherus und versprach, niemals wieder selber Hand an zu legen. Als wir endlich losfuhren, fing es an zu regnen… t.b.c.
